Das System der staatlichen Leistungen passe nicht mehr zu den modernen Lebensrealitäten, sagt die Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler. Wenn immer mehr Erwerbstätige nur Teilzeit arbeiteten, müsse sich etwas ändern.
Sie zählt zu den renommiertesten Ökonominnen der Schweiz – sie studierte Mathematik und Physik an den Universitäten Zürich und Bern und arbeitete danach beim Lawineninstitut und bei der Swissair. Später begann sie ein Studium an der HSG, wo sie im Jahr 1997 doktorierte. Es folgten ein Aufenthalt als Assistenzprofessorin an der Tilburg-Universität in den Niederlanden und eine ordentliche Professur an der Universität Lausanne. Im Jahr 2004 kehrte Monika Bütler an die Universität St. Gallen zurück, wo sie bis 2021 als ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik sowie als Direktorin des von ihr mitgegründeten Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung (SEW) tätig war. Monika Bütler ist heute selbständig und Mitglied in zahlreichen Verwaltungsräten, unter anderen bei Swiss Life und der Schindler Holding AG.
Ja. In vielen Gegenden dieser Welt können es sich die Menschen gar nicht leisten, Teilzeit zu arbeiten. Weniger zu arbeiten, ist eine der Wahlmöglichkeiten, die ein reiches Land wie die Schweiz eröffnet. Steigende Löhne führen in wohlhabenden Gesellschaften nicht immer zu einem höheren Arbeitsangebot, sondern zu mehr Freizeit. Weil sich das gewünschte Einkommen mit weniger Zeitaufwand erzielen lässt.
"Weniger zu arbeiten, ist eine der Wahlmöglichkeiten, die ein reiches Land wie die Schweiz eröffnet."
Das sehe ich auch so. Viele Menschen merken, dass sie nicht zu 100 Prozent angestellt sein müssen, um gut leben zu können. Gleichzeitig ist ein Teil des Teilzeit-Phänomens auch den Rahmenbedingungen geschuldet. Denn wer 100 Prozent arbeitet, fällt in eine höhere Steuerprogression oder verliert Subventionen. Gleichzeitig fallen bei Vollzeit höhere Kosten an, weil beispielsweise eine Haushalthilfe bezahlt werden muss. Vollzeit arbeiten ist teuer.
Die Freizeit zählt wie das Einkommen zur Leistungsfähigkeit einer Person. Wer weniger Zeit hat, findet seltener günstige Angebote oder leistet sich zum Beispiel eine Haushaltshilfe. Ich selbst bin jeweils zum nächstbesten Laden gerannt, wenn die Kinder neue Schuhe brauchten, und habe viel mehr bezahlt als meine Teilzeit arbeitende Freundin. Weil ich die Zeit nicht hatte.
Das ist eine wichtige Frage. Unser Steuer- und Transfersystem ist ausgelegt auf Menschen, die Vollzeit arbeiten, wenn sie keine Kinder haben, und auf Familien, bei denen nur ein Elternteil in einem hohen Pensum arbeitet. Und daran sind auch die Sozialleistungen, also beispielsweise die Schwellen für Subventionen, ausgerichtet. In einem optimalen Steuersystem müsste eigentlich die gesamte Leistungsfähigkeit, einschliesslich der Freizeit, berücksichtigt werden. Die Umsetzung wäre allerdings herausfordernd und würde wohl an der schwierigen Messbarkeit scheitern. Müsste jemand, der mit einem guten Lohn zu 50 Prozent arbeitet, Steuern auf dem erzielbaren Einkommen bei 100 Prozent entrichten? Oder nur zu dem bei 100 Prozent anwendbaren Steuersatz? Wie geht man um mit Selbständigerwerbenden und Menschen mit Betreuungsaufgaben?
Die Debatte um die Teilzeit legt den Finger auf einen wichtigen Punkt in der Gestaltung des Steuer- und Transfersystems. Wir sollten uns wieder einmal fragen, welche Ziele wir damit verfolgen und ob wir diese Ziele mit dem heutigen System überhaupt erreichen können. Kommen die Subventionen bei den richtigen Leuten an? Und gäbe es eventuell klügere Lösungen für gewisse Probleme? Zum Beispiel beim Wohnen: Statt Wohnungen zu subventionieren, von denen nur wenige profitieren, könnten Wohngeldzuschüsse gewährt werden. Es gibt effizientere und gerechtere Lösungen als das heutige System.
Ja, vor allem bei den eher höheren Einkommen. Bei den mittleren Einkommen macht die Steuerprogression nur einen Teil der zusätzlichen Belastung bei höherer Beschäftigung aus, gerade bei den Familien. Dazu kommt der Wegfall von Subventionen für Kita, Krankenkasse und Wohnraum.
Solche Überlegungen machen sich wohl viele, gerade auch die Gutverdienenden. Ich habe kürzlich eine Anfrage für einen Vortrag abgelehnt, für den ich 2000 Franken erhalten hätte. 200 Franken davon wären an die Sozialversicherungen gegangen, fast 700 Franken an die Steuern. Ich habe mir dann einen freien Tag gemacht. Für mich ging die Rechnung auf, der AHV/IV hingegen entgingen 200 Franken, dem Staat 700.
Da wird es schwierig. Wenn Akademikereltern, die zusammengerechnet zu 100 Prozent beschäftigt sind und damit gleich viel verdienen wie ein Elternpaar, bei dem beide zu 100 Prozent in der Pflege arbeiten, fragt man sich: Ist es fair, dass beide Paare gleich hohe Kita-Gebühren bezahlen?
Unsere Gesellschaft ist sehr viel heterogener geworden, und wir haben es heute mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen zu tun. Jeder und jede von uns kennt zwar jemanden, der oder die das System ausreizt. Nur: Ist das wirklich ein Massenphänomen – oder sind das ein paar Ausreisser? Wir wissen es nicht, weil uns die Daten fehlen. Dabei wären solche Informationen für die politische Diskussion sehr wichtig. Auch um zu beurteilen, ob wir in Zukunft die Studienfinanzierung anders organisieren müssten.
Dass jemand für sich die beste Lösung sucht, finde ich selbstverständlich. Das gehört zum Kern einer liberalen Gesellschaft. Problematisch wird es, wenn das System der staatlichen Leistungen und deren Finanzierung nicht mehr auf die Lebensrealitäten passen. So ist der Verheiratetentarif bei den Steuern perfekt auf die Familie mit einem Alleinverdiener geschnitten, nicht aber auf einen Zweitverdienst, der in der Folge übermässig besteuert wird. Und unser Steuer- und Transfersystem mit den progressiven Steuern basiert auf der Annahme, dass die Menschen in der Regel in einem vollen Pensum arbeiten. Es ist nicht ausgelegt auf gut ausgebildete Leute mit guten Verdienstmöglichkeiten, die mit Teilzeit ihre finanzielle Lage optimieren können.
"Problematisch wird es, wenn das System der staatlichen Leistungen und deren Finanzierung nicht mehr auf die Lebensrealitäten passen."
Das hängt immer von den Umständen ab. Die Frage ist aber viel allgemeiner. Eine hohe Bildung liegt auch im Interesse der Gesellschaft. Nur: Durch die freie Studienwahl und die fast vollständige Finanzierung der Hochschulbildung mit öffentlichen Geldern fällt ein beachtlicher Teil des Nutzens, den die Ausbildung generiert, privat an. Oder anders gesagt: Akademisch ausgebildete Menschen profitieren viel stärker von den staatlichen Bildungsausgaben als Berufsleute, welche ihre Ausbildung grösstenteils selbst bezahlen müssen. Der implizite Gesellschaftsvertrag ist, dass die auf Staatskosten ausgebildeten Leute die Allgemeinheit über höhere Steuern später entschädigen. Dieser Vertrag wird dann infrage gestellt, wenn Leute, die sich auf Staatskosten ausbilden liessen, nachher durch eine geeignete Optimierung der Arbeitszeit die gleichen Leistungen beziehen wie die Leute, die die ganze Ausbildung selbst bezahlen. Das ist letztlich auch eine Wertefrage, über die wir diskutieren müssen.
Grundsätzlich würde ich gerne mehr Zahlen sehen. Um ein System anzupassen, braucht es ein gutes Verständnis dafür, wie die Lebensläufe der Menschen aussehen. Vielleicht arbeiten viele nur für kurze Zeit Teilzeit. Eine Punktaufnahme ist wenig hilfreich, wir müssten wissen, wie viel die Menschen über den ganzen Lebenszyklus arbeiten und Steuern zahlen. Für eine fundierte politische Diskussion wären solche Daten unendlich wichtig.
Zum Beispiel eine höhere Beteiligung der Studierenden an den Ausbildungskosten, mit sozialen Abfederungen. Dazu gibt es einige Modelle. Oder es werden während des Studiums keine Beitragsjahre für die AHV gewährt. Schliesslich ist die verbleibende Erwerbszeit nach einem Studium deutlich geringer als bei den Berufsleuten. Und Akademikerinnen und Akademiker haben erst noch eine höhere Lebenserwartung.
Bezüglich Teilzeit bin ich hier etwas entspannter. Heute findet vor allem eine Umverteilung der Zeit statt. Die Männer arbeiten weniger und die Frauen dafür mehr. Bis jetzt ist die gesamte Arbeitsleistung fast nicht zurückgegangen. Problematischer für die AHV ist, dass wir gemessen an der Lebenserwartung eine immer kürzere Phase arbeiten und ins System einzahlen. Die berufliche Vorsorge ist individueller. Jeder und jede, der oder die Teilzeit arbeitet, muss sich bewusst sein, dass er oder sie weniger Leistungen aus der Pensionskasse erhält.
" Jeder und jede, der oder die Teilzeit arbeitet, muss sich bewusst sein, dass er oder sie weniger Leistungen aus der Pensionskasse erhält."
Einige Verbesserungen, wie die Senkung des Koordinationsabzugs, sind bereits Teil der vorgeschlagenen BVG-Reform. Ein stärkerer Vorsorgeausgleich zwischen Eltern wäre sinnvoll, um Lücken auszugleichen, die durch Betreuungsarbeit entstehen. Dass man das Vorsorgevermögen teilt, ist nichts Neues. Was heute bereits bei verheirateten Paaren gilt, sollte auf alle Eltern ausgedehnt werden.
Wer sein Leben lang freiwillig Teilzeit gearbeitet hat, hat im Alter weniger Geld. Das mag in guten Zeiten reichen, nicht aber wenn die Person pflegebedürftig ist und auf Ergänzungsleistungen angewiesen ist. Für den Staat ist Teilzeitarbeit nicht gratis.
Hier würde ich ebenfalls gern Daten sehen. Wenn eine Ärztin oder eine Ingenieurin ihr Pensum erhöht, weil ihr Partner Teilzeit arbeitet, dann lindert das den Fachkräftemangel. Wenn mehr Menschen in Berufen mit Fachkräftemangel Teilzeit arbeiten, verschärft sich der Fachkräftemangel. Nicht alle Berufe und Ausbildungen sind gleichermassen gesucht. Wir wären nicht automatisch besser aufgestellt, wenn alle Männer 80 statt 100 Prozent und alle Frauen 70 statt 50 Prozent arbeiten würden. Frauen wählen andere Berufe als Männer.
Quelle: Elena Oberholzer, Christin Severin, «Neue Zürcher Zeitung», 28.03.2023
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