Zwei bekannte CEOs, zwei komplett unterschiedliche Karrierewege: Sergio Ermotti durchlief alle Stationen seiner Branche. Von der Pike auf lernte er das Geschäft kennen und arbeitete sich vom Lehrling zum CEO der grössten Schweizer Bank hoch.
Philipp Wyss, heute CEO von Coop, ist ursprünglich gelernter Metzger. Vom Wursten und Filetieren wechselte er in den Verkauf, tauscht das Fleischmesser gegen den Kugelschreiber ein. Und startete so den Aufstieg zum höchsten Posten bei der Detailhändlerin.
«In Management-Lehrbüchern lernt man, dass Quereinsteiger und Vielfalt für eine Firma positiv sind. Sie bringen Innovation und neue Sichtweisen», sagt Pascal Scheiwiller, CEO der Karriereberatung von Rundstedt & Partner Schweiz AG. Nur: «In der Praxis passiert genau das Gegenteil.»
Damit meint Scheiwiller das Phänomen «Zero Gap»: Rekrutierende Firmen suchen für ihre Position niemanden Fachfremden, sondern Personen, die exakt das gesuchte Wissen und die gewünschte Erfahrung mitbringen. Es gilt null Abstand zum geforderten Profil.
Eine Firma sucht also nicht nur einen Marketingmanager, «sondern jemanden, der diese Funktion in genau der gleichen Branche, der gleichen Situation und mit den gleichen Aufgabenstellungen bereits erfolgreich gemacht hat». Das mache es schwierig für Quereinsteigerinnen; im Vergleich mit Fachspezialisten hätten sie eine viel geringere bis gar keine Chance auf einen solchen Job. Und für Spezialisten kann die Deckungsgleichheit von eigenem Profil und neuen Anforderungen mitunter langweilig sein, da sie bei einem Stellenwechsel in der Regel eine neue Herausforderung suchen.
«Das Zero-Gap-Verhalten weicht nur dann einer grösseren Flexibilität, wenn eine Firma durch den Markt dazu gezwungen wird und die gesuchten Profile nicht mehr findet»
In der Zeit nach der Corona-Pandemie gab es einen Lichtblick für alle, die beruflich damit liebäugelten, sich in eine neue Richtung zu entwickeln. Die Studie «Fachkräftemangel in der Schweiz» aus dem Jahr 2022 zeigte auf, dass Bewerbende aufgrund des Fachkräftemangels in 31 Prozent der Firmen eher eine Chance bekommen haben. «Das Zero-Gap-Verhalten weicht nur dann einer grösseren Flexibilität, wenn eine Firma durch den Markt dazu gezwungen wird und die gesuchten Profile nicht mehr findet», erklärt Scheiwiller.
Doch vom Fachkräftemangel sei heute wenig zu spüren: «Die Unternehmen finden ihre Arbeitskräfte nach wie vor im In- oder im Ausland. Sie können es sich deshalb leisten, weiterhin auf Quereinsteiger zu verzichten.» Es sei ja auch verständlich und natürlich, dass Firmen bei Verfügbarkeit nach der grössten Übereinstimmung zwischen Anforderungen und Profil suchten.
Doch es gibt Branchen, die aktuell auf Quereinsteiger und Interessierte angewiesen sind. Akut ist das Beispiel an den Schulen. Es fehlt an Lehrkräften in der ganzen Schweiz. Deshalb unterrichten zu Schuljahresbeginn alleine im Kanton Bern 1500 Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen ohne Diplom, wie das Online-Medium «Hauptstadt» berichtet.
Was im Lehrwesen so weit funktioniert, klappt aber nicht in allen Branchen. Schwieriger sei es etwa im medizinischen Bereich: Auch bei Personalmangel könnten nicht einfach Bewerber ohne die nötige Ausbildung und Qualifikation angestellt werden. Fehler führen zu potenziell schwerwiegenden Konsequenzen, eine Ausbildung und Erfahrung sind unabdingbar. «Deshalb ist ein Quereinstieg in eine stark regulierte und ausbildungsintensive Branche per se umso schwieriger.»
Es gibt aber auch Firmen, die bei Fachberufen gezielt nach Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern suchen. Dazu gehört etwa die Migros. Mit dem «M-Career Program», einem Pilotprojekt aus dem Jahr 2022, sucht die Firma IT-Interessierte. Im Schnelldurchlauf werden diese zum «Junior SAP Consultant» oder zum «Junior Abap Developer» ausgebildet. «Wir erhalten täglich mehrere Anfragen, im Schnitt etwa dreissig Spontanbewerbungen im Monat», schreibt die Mediensprecherin der Migros. Fünfzig Personen haben das Programm bereits abgeschlossen.
Raiffeisen geht mit dem Programm «Neustart» denselben Weg, hier erhalten Quereinsteigende das nötige Wissen für eine Position in der Kundenberatung. Für den Beginn im September 2024 sind rund zwanzig Bewerbungen eingegangen.
Auch die SBB bietet Zweitausbildungen wie Lokführerin oder Zugverkehrsleiter an, die monatlich 800 Bewerbungen einbringen. «Generell ist ein grosses Bedürfnis nach sinnvoller Tätigkeit spürbar», schreibt der Mediensprecher. Die Pandemie sei ein Auslöser dafür gewesen, dass sich Menschen verstärkt mit der Frage auseinandersetzen, was sie beruflich wirklich wollen würden.
Aber längst nicht alle Quereinsteigerprogramme funktionieren so gut. Die MEM-Passerelle des Verbandes Swissmem, die mehr Menschen in die MEM-Branche locken soll, kommt nicht wirklich zum Fliegen. «Die Träger sind vom Mehrwert überzeugt, aber das Projekt braucht Zeit, um zu greifen», sagt Sonja Studer, Mitglied der Swissmem-Geschäftsleitung. Die Tech-Industrie befinde sich wirtschaftlich seit Frühjahr 2023 in einer schwierigen Situation, weshalb viele Unternehmen Risiken vermeiden würden und auf das Zero-Gap-Prinzip setzten.
«Paradoxerweise macht die Fachkräfteknappheit die Ausgangslage für die MEM-Passerelle nicht einfacher», so Studer. Die HR-Abteilungen vieler Unternehmen stünden unter hohem Druck und seien darum weniger bereit, sich auf neue und wenig erprobte Ansätze einzulassen. «Gleichzeitig ist die Bereitschaft zu einem Berufsfeldwechsel aufseiten der Arbeitnehmenden gering, solange in vielen Wirtschaftszweigen genügend Stellen offenstehen, die keine berufliche Veränderung verlangen.»
Die hohe Anzahl an Programmen für Quereinsteiger zeigt, dass ein Interesse vorhanden ist – auf beiden Seiten. Auch bei Karriereberatungen nehmen die Anfragen zu, so sei das Thema bei Karriereberaterin Anne Forster «omnipräsent». Dabei hätten die Quereinsteiger bei Bewerbungen einen schwierigeren Stand als die Branchenspezialisten. Bei ihnen schauten Firmen im Gespräch genauer hin und fragten: «Aber Sie haben doch die ganze Zeit dieses und jenes gemacht, wieso wollen Sie denn dann jetzt zu uns?»
An diesem Punkt setzt die Karriereexpertin Forster an. In diesem Moment gehe es darum, Eigenschaften aufzuzeigen, die auf die Branche übertragbar sind. Erfahrungen in Projektleitungen, Kommunikations-Skills oder die Freude am Erfassen von Berichten listet sie auf. Wichtig sei, diese in der Bewerbung hervorzuheben und gewillt zu sein, im neuen Betrieb zu lernen, wie man die Fähigkeiten anpassen kann.
Dieser Moment sei für Fachspezialistinnen und Fachspezialisten einfacher, denn sie wissen genau, bei wem und wofür sie sich bewerben: «Da geht es dann eher mal um die Frage, in welche Spezialrichtung sie sich weiter vertiefen wollen.»
Die Einschätzung von Forster, die Quereinsteigerprogramme und die Zahlen bestätigen, dass der Trend des Quereinstiegs existiert. Doch in der Schweiz sei die Kultur dafür längst noch nicht so stark etabliert, meint Scheiwiller: «In Ländern wie den USA sind Unternehmen viel risikobereiter.»
Doch bis mehr Quereinsteiger den Schweizer Markt bewegen, braucht es noch Zeit. Denn viele Schweizerinnen und Schweizer seien schlicht auch unwillig, wegen eines Berufswechsels Lohneinbussen oder eine zusätzliche Ausbildung in Kauf zu nehmen. «Wer geht schon gerne ins kalte Wasser, wenn man im warmen bleiben kann?», fragt er und fasst so den Wohlfühlmarkt Schweiz zusammen.
Quelle: Handelszeitung, Lena Madonna, 2025 (erstmals erschienen im 2024)
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